Schulstrukturreform – Unklare Konzepte, verunsicherte Eltern
Schulstrukturreform – Unklare Konzepte, verunsicherte Eltern
Klartext vom 20.05.09 / [Video]
Mit der zukünftigen Sekundarschule will Bildungssenator Zöllner mehr Chancengleichheit und höhere Bildungsstandards erreichen. Doch die Eltern begehren auf: Was wird aus den Gymnasien und wie werden die neuen Schulen ausgestattet? Klare Konzepte fehlen bislang.
Eltern wollen für ihre Kinder eigentlich immer nur das Beste: Doch was das Beste ist, darüber kommt es immer wieder zum Streit. Seit Pisa herrscht größte Verunsicherung bei Eltern, Lehrern und Politikern. In Berlin soll jetzt eine Schulreform umwälzende Veränderungen bringen: Geplant ist, dass schon ab nächstem Jahr Haupt-, Real- und Gesamtschulen in Berlin zusammengefasst werden. Doch die Eltern begehren auf, auch weil die Faktenlage so unübersichtlich ist. Iris Marx und Ute Barthel bringen Licht ins Dunkel.
Hier wollen sie alle hin. Auf das Gymnasium. Auch wenn das Kind von der Grundschule nur eine Hauptschulempfehlung hat. Doch in Berlin dürfen letztlich die Eltern entscheiden, wo ihr Kind lernt. Die Empfehlung der Grundschule können sie getrost übergehen.
Besonders groß ist der Zulauf in Steglitz-Zehlendorf, so der Direktor des Beethoven-Gymnasiums.
Wolfgang Harnischfeger, Schulleiter Beethoven-Gymnasium
„Im Bezirk Steglitz-Zehlendorf haben wir in diesem Jahr sechs Gymnasial-Klassen mehr als im letzten Jahr. Wobei die Zahl der Kinder nicht in gleichem Maße gestiegen ist, das heißt, es versuchen mehr Kinder aufs Gymnasium zu kommen.“
Dabei hat rund ein Drittel der Berliner Gymnasiasten nur eine Realschulempfehlung. Und oft ist es die besserverdienende Mittelschicht, deren Kinder trotzdem das Abitur schaffen – zur Not mit extra Nachhilfe.
Arbeiter- und Migrantenkinder bekommen so eine Unterstützung selten. Sie werden als Rest abgehängt. Meist landen sie auf der Hauptschule, und später bei Hartz IV. Damit diese Kinder nicht mehr auf dem Abstellgleis Hauptschule enden, soll sie ganz abgeschafft werden. Mit dem Willen des Schulsenats im Rahmen der großen Schulstrukturreform. Geplant ist ab 2010 Haupt- Real- und Gesamtschulen zu einer sogenannten Sekundarschule zusammenzuführen.
An der Sekundarschule sollen alle Abschlüsse möglich sein. Das heißt, auch das Abitur nach 13 Jahren. Das Gymnasium bleibt daneben bestehen, mit dem Abitur bereits nach zwölf Jahren.
Die Idee der Sekundarschule ist: „Gemeinsames und integratives lernen“. Das heißt: Lernstarke Schüler sollen die lernschwachen mitziehen. Damit das funktioniert, braucht die Sekundarschule zwar nicht die Klassenbesten aber trotzdem gute Schüler.
Wolfgang Harnischfeger, Schulleiter Beethoven-Gymnasium
„Ich denke, wenn diese neue Schulform, die Sekundarschule, erfolgreich sein soll, und das muss sie unbedingt, denn sie wird 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs aufnehmen, dann muss sie auch leistungsstarke Schüler haben, denn sie soll ja die gleichen Abschlüsse vermitteln wie das Gymnasium. Sie soll also auch zum mittleren Schulabschluss und auch zum Abitur führen.“
Nur noch die besten sollen aufs Gymnasium kommen, also die Elite. Da aber die meisten Eltern für ihre Kinder nur das Beste wollen, kann es mit der jetzigen Praxis nicht weitergehen. Deshalb soll zukünftig allein der Elternwille für die Schulwahl nicht mehr ausschlaggebend sein.
Daher wird der Zugang zum Gymnasium neu geregelt. Unter anderem Leistungsgesichtspunkte – also die Noten – sollen stärker ins Gewicht fallen, um die vom Senat angestrebte Durchmischung der Schülerschaft zu gewährleisten.
Prof. Jürgen Zöllner (SPD), Bildungssenator
„Es ist auch richtig, dass natürlich eine gleichmäßige Mischung von Interessen und Begabungen zur optimalen Förderung wünschenswert ist. Und dann geht es uns ja auch darum, Bildungsreserven, wie man so schön sagt, zu aktivieren. Und das wird dazu führen, dass aus Gruppierungen eben qualifizierte und erfolgreiche Schüler gibt, die es bis jetzt noch nicht gibt.“
Gemeinsames Lernen ist also gut für die Schwachen. Aber ist es auch gut für die Starken? Auf einer Informationsveranstaltung trugen Eltern ihre Sorge vor.
Beate Turner
„Ich wollte fragen,… es wurde bis jetzt nur darüber gesprochen, welche Vorteile das jetzt für die Schulen hat, wenn es einen geringen Zugang für das Gymnasium ist. Welchen Vorteil soll das jetzt für die Schüler haben oder welche Auswirkungen es für diese Schüler hat, die nur zu der mittleren Gruppe gehören und dann nicht mehr aufs Gymnasium kommen?“
Geht die Reform womöglich zu Lasten dieser Kinder? Experten sind sich zwar einig, dass gemeinsames Lernen Vorteile für alle haben kann. Aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen.
Prof. Dieter Lenzen, Präsident Freie Universität Berlin
„Wir wissen aus verschiedenen Untersuchungen, dass der Leistungsstand einer Klasse erhöht wird, wenn leistungsstärkere Schüler mit Schwächeren zusammen lernen. Die Spreizung darf ein bestimmtes Maß nicht überschreiten, dann hat es einen gegenteiligen Effekt, dass nämlich die Leistungsschwachen, die sehr Schwachen, die Leistungsstärkeren mit hinunter ziehen. Also, die Bandbreite der Leistung darf ein bestimmtes Maß nicht überschreiten…“
Aber wird das Verhältnis von den Leistungsstarken und Leistungsschwachen auch wirklich ausgewogen sein? Welche Lehrer sollen an der Sekundarschule unterrichten? Und: wie viele? Fragen, auf die Eltern wie Frau Turner noch keine Antworten bekommen haben.
Ihr Sohn Hendrik geht gern zur Schule. Er glaubt, dass er auf dem Gymnasium noch mehr lernen kann. Denn bereits jetzt auf der Grundschule geht es ihm oft im Unterricht zu langsam voran.
KLARTEXT
„Hast du oft das Gefühl, dass du warten musst auf die anderen?“
Hendrik Turner
„Ja, schon in Mathe, und auch in Deutsch manchmal und in Sachkunde, Französisch auch, ok, in Sport jetzt nicht so…“
Hendrik hat zwar gute Noten und wird es aufs Gymnasium schaffen. Aber selbst seine Mutter ist durch die Reformpläne verunsichert worden. Sie weiß nicht, ob es künftig ausreichend Plätze am Gymnasium geben wird.
Beate Turner
„Also es ist natürlich klar, wenn es da was Neues gibt, steht man dem natürlich oft skeptisch gegenüber. Kann das jetzt genauso gut sein, wie das, was man vorher schon hatte? Aber ich denke mal, ich stehe da mit meinem Gefühl nicht alleine da.“
Kein Wunder – denn der Senat hat wichtige Fragen selbst ein Jahr vor der Reform noch nicht beantwortet. Eltern wissen nicht, was auf sie zukommt. Wie die Schulreform in der Praxis umgesetzt werden soll, muss der Senat deutlicher machen.
Das fordert auch die bildungspolitische Sprecherin der FDP.
Mieke Senftleben, Bildungspolitische Sprecherin (FDP), MdA
„Der Senator muss hier klar sagen, wie er diese Schulen ausstatten will, da braucht es mehr Transparenz und vor allem auch auch mehr Ideen.
KLARTEXT
„Das, was er bisher vorgestellt hat, reicht Ihnen nicht aus?“
Mieke Senftleben, Bildungspolitische Sprecherin (FDP), MdA
„Nein, es reicht nicht aus und es ist alles sehr intransparent, was er macht.“
Und so lange das so bleibt, vertrauen Eltern weiter aufs Gymnasium. Egal, wie streng der Zugang geregelt wird. Denn sie finden immer einen Weg, um ihr Kind auf die Wunschschule zu bekommen, und das ist dann nicht die Sekundarschule…
Eine gute Nachricht in diesem Zusammenhang: Geld gibt’s ausnahmsweise genug, zumindest für die Umbaumaßnahmen, die für die Schulreform notwendig werden. Aus dem Konjunkturpaket der Bundesregierung stehen den Berliner Schulen knapp 200 Millionen Euro dafür zur Verfügung.
Ute Barthel und Iris Marx
Quelle : http://www.rbb-online.de/klartext/archiv/klartext_vom_20_05/schulstrukturreform.html